Dada, Punk und Oi-Musik: Das Gesetz der ewigen Wiederkehr

Dada, Punk und Oi-Musik: Das Gesetz der ewigen Wiederkehr
Dada, Punk und Oi-Musik: Das Gesetz der ewigen Wiederkehr
 
In einem kunterbunten, überfüllten Lokal sind einige wunderliche Fantasten auf der Bühne zu sehen, welche Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Emmy Hennings und meine Wenigkeit darstellen. Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Wir antworten darauf mit Liebesseufzern, mit Rülpsern, mit Gedichten, mit »Muh, Muh« und »Miau, Miau« mittelalterlicher Bruitisten. Tzara lässt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat, Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreideweiß wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet.«
 
Der elsässische Künstler Hans Arp berichtet hier vom Cabaret Voltaire, das 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, im historischen Ortskern von Zürich gegründet wurde. Insbesondere die Pauke beziehungsweiseTrommel wurde zum klingenden Sinnbild der Dada-Tonwelt: Sie übertönte, wie Hugo Ball 1916 bemerkte, den Kanonendonner einer erniedrigenden Zeit und signalisierte gleichzeitig kunstrevolutionäres Aufbegehren.
 
Das auf der Züricher Experimentierbühne entstandene Konzept des Wechsels von improvisierten und einstudierten Beiträgen varieteehaften Charakters entfesselte umgehend einen Prozess kreativer Dynamik international operierender »Antiartisten« unter der Losung »Dada«. Diese Wortprägung heißt im Rumänischen »Ja, Ja«, im Französischen »Hotto« oder »Steckenpferd«. »Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität«, erklärte Hugo Ball 1916. Zentren des Dadaismus waren neben Zürich und Genf vor allem Berlin (1918-20) und Paris (1920-23). Programmzettel und Aufführungsberichte zeugen davon, dass Musikbeiträge der unterschiedlichsten Art und musikalisch untermalte Aktionen wesentliche Bestandteile der öffentlichen Auftritte waren.
 
Lärm, Geräusch und Kakaphonie bestimmten den »Bruitismus« (von französisch »bruit« = Lärm) dadaistischer Lebensauffassung, und insbesondere der aus Amerika importierte Jazz kam dem bruitistischen Ungestüm der Dadaisten entgegen. 1920 machte auf einem Genfer Dada-Ball »eine Original-Jazz-Band-Dada-Kapelle, die sich zur Komplettierung ihrer Klangwirkungen alter Töpfe, Autohupen, Kasserollen, Hundepfeifen und Flaschen bediente, ein geradezu beispielloses Spektakel«, war im Prager Tagblatt vom 21. März 1920 zu lesen. Doch auch außerhalb der engeren Dadazirkel entstanden vom Dadaismus beeinflusst Klangexperimente und Kompositionen, etwa Hans Jürgen von der Wenses »Musik für Klavier, Klarinette und freihängendes Blechsieb« (1919) und Erwin Schulhoffs »Fünf Pittoresken für Klavier« (1919) sowie dessen 1919 entstandene »Sonata erotica für Solo-Muttertrompete«, die erst 1994 uraufgeführt wurde, ein auskomponierter Liebesakt mit Lustgestammel und -gestöhne mit dem Zusatz: »!nur für Herren! Opus extra«.
 
Das Konzept der Simultaneität, ein wichtiges Konzept Dadas, wurde zum einen bei dem gleichzeitigen Vortrag unterschiedlicher Texte realisiert, das Raoul Hausmann als »Gleichnis der Verworrenheit und Sinnlosigkeit der Realität« verstand. Das »kontrapunktliche Rezitativ« des Simultangedichts begleiteten die Ausführenden, wie Hannah Höch beschrieb, mit einem »infernalisch-bruitistischen Orchester: rhythmisch gesteuerte Ballung von Pfeifen, Stampfen, Blechschlagen, Kinder-Knarren, Gebimmel, Okarinageblas und Geschrei«. Zum anderen kam es zu einer Art akustischer Montage, als eine Gruppe junger Dada-Fanatiker unter Leitung des Komponisten Stefan Wolpe auf acht Grammophonen Beethoven- Sinfonien in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zugleich mit einem Schlager, Trauermarsch oder Walzer abspielten.
 
Ende der Siebzigerjahre hieß es in London und in New York, Punk-Rock sei wie Dada. Von der Roxy-Band hieß es, sie sei »eine Art neues Cabaret Voltaire«, und Isabelle Anscombe schrieb 1978: »Punk muss bereit sein, sich in dem Moment selbst abzulehnen, in dem er allgemein akzeptiert wird, muss für Veränderungen offen sein und auf Profit verzichten. Er ist eine Form von Anarchie, genau wie das dadaistische »Cabaret Voltaire« gegen Ende des Ersten Weltkrieges - und wie viele Menschen wissen darüber schon Genaueres?« Ende 1975 drängten sich die Sex Pistols mit ihrem Sänger Johnny Rotten in das Konzert einer anderen Band und taten, als seien sie die Vorgruppe; nach zehn Minuten wurde ihnen der Strom abgestellt. In Titeln wie »Anarchy in the U.K.« und »God Save the Queen« attackierten die Sex Pistols das britische Selbstwertgefühl. »No future for you, no future for me, no future in England's dah-rrrreeming« tönt der ätzende Chorus am Ende des Songs der Rockgruppe Queen. Alles an der sich stürmisch ausbreitenden Punkbewegung war Widerstand, der Schreigesang und der Gitarren- und Feedback-Lärm, bewusste Gossenpoesie und das Aussehen und Auftreten als Bürgerschreck. Die Initialzündung des Punk leitete in der Populärkultur eine Reihe von Aufbrüchen und rasanten Aufsplitterungen der Szene ein, denen nicht selten wenig später die kommerzielle Musikindustrie den Weg vom Underground zum Upperground bahnte. Punk war rasch in beiden deutschen Staaten präsent. Neben Zentren wie Hamburg und Berlin gab es auch in einer Reihe von Großstädten in der DDR Punkszenen. Die Ostberliner Szene des Prenzlauer Berges war lange Zeit das sozialistische Gegenstück zum alternativen Kreuzberger Westen.
 
Die Standardbesetzung einer Punk-Band besteht aus zwei Elektrogitarren, Elektrobass und Drums. Die Gitarren spielen - fast immer verzerrt - nach meist sehr einfachen Griffschemen Folgen von wenigen Akkorden. Das Schlagzeug ist laut, der Gesang oft kehlig geschrien oder bewusst gequetscht. Der formale Aufbau von Einleitung, Strophen und Refrains bildet den Rahmen für im Einzelfall durchaus differenzierte Gestaltungen, bei denen sich genaues Hinhören lohnt. So etwa im Song »Deutschland, halt's Maul« von den Skeptikern, in dessen Intro der Akkordwechsel von d-Moll nach F-Dur instrumentatorisch-dynamisch gesteigert wird, während die Harmonik der Strophen zwischen terzverwandten Klängen pendelt und erst ganz zum Schluss nach C kadenziert. Hier schlägt auch das Schlagzeug keineswegs unbarmherzig durch, sondern ordnet den Abschnitten unterschiedliche rhythmische Motive zu.
 
Ende der Siebzigerjahre steigerte der »Hardcore« Schnelligkeit, Härte und Aggressivität des Punkrock und artikulierte linksradikale beziehungsweise anarchistische Themen. Etwa zur selben Zeit wurden Punkmusik und Hardcore zusammen mit Ska, Reggae, Soul und Polit-Metal in der diffusen Skinhead-Bewegung mit rechtsradikalen Texten verbunden. »Oi-Musik«, deren Bezeichnung von der national-sozialistischen Organisation »Kraft durch Freude« - ausschlaggebend ist der Umlaut in »Freude« -, abgeleitet wurde, ist das wichtigste Identitäts stiftende Medium der Skinheads. Das Selbstverständnis schildert anschaulich der Liedtext »Tätowiert und kahlrasiert« der Gruppe Werwolf: »Den Schädel hast du kahlrasiert und deinen Körper tätowiert. In der Hand den Alkohol, so fühlst du dich richtig wohl. Tätowiert und kahlrasiert, Wir sind stolz auf unsere Glatzen, scheißen auf die Punkerfratzen. ..« Die Konzerte der Skinhead-Bands finden meist ohne öffentliche Werbung, nur in Insider-Kreisen statt. CDs und Kassetten werden nur an Ständen und über Spezialvertriebe verkauft. Die rechtsextremen, rassistischen, nationalisierenden und ausgrenzenden Orientierungsmuster der Skinhead-Texte, mit den Klangmustern und Rhythmen der Oi-Musik eingehämmert, sind in einer Zeit zunehmender Arbeits- und geistiger Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher nicht nur am sozialen Rand der Gesellschaft eine Gefahr. Pädagogische, soziale und politische Versuche, über Ausgrenzungen hinauszukommen, können nur gesamtgesellschaftlich angegangen werden.
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
 
Flender, Reinhardund Rauhe, Hermann: Popmusik. Aspekte ihrer Geschichte, Funktionen, Wirkung und Ästhetik. Darmstadt 1989.

Universal-Lexikon. 2012.

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